Depression aus professioneller Sicht

(Text: Manfred M.)

 

Wir in unserer Selbsthilfegruppe vertreten die Ansicht, dass es durchaus nützlich sein kann, Wissen um die Erkrankung Depression zu sammeln, um die eigene Erkrankung nicht nur besser verstehen zu können (informed client), sondern auch diese gegenüber dem eigenen sozialen Umfeld, wie auch gegenüber professionellen Helfern besser vertreten zu können.

 

Der Wunsch, etwas aktiv für die eigene Gesundung zu tun, stärkt nicht nur das eigene Selbstvertrauen, sondern hilft auch, aus einer passiven Patientenrolle herauszuwachsen.

 

Dieses Kapitel greift auf die klinisch-diagnostischen Leitlinien nach ICD-10 zurück sowie  auf die Abgrenzung von Burnout und Depression. Die DSM IV (übersetzt: „diagnostic and statistical manual of mental disorders“, herausgegeben von der amerikanischen Psychiatrievereinigung), gewinnt zunehmend auch in Deutschland an Bedeutung. Mittlerweile ist auch die DSM V erschienen.

 

Weitere Informationen über Depression finden sich beim Robert Koch-Institut und bei der Max-Planck-Gesellschaft sowie auf zahlreichen Internetseiten und in Gesundheitsbroschüren.

 

Die Krankheit Depression ist immer noch ein aktueller  Forschungsgegenstand, obwohl es bereits viele empirische Studien dazu gibt.

 

Die eigene Erkrankung schon in ihren Frühstadien wahrzunehmen und entsprechende fachliche Hilfe zu suchen, ist selbst schon ein komplexer Lernprozess auf verschiedenen Ebenen.

 

Dazu gehört auch ein angemessener Erwerb von Fachwissen, das die eigene Erkrankung annähernd verständlich macht.

 

Dieses Kapitel gibt einen kurzen fachlichen Überblick über die multifaktoriellen Faktoren für die Entstehung einer Depression.

 

Definition nach ICD 10

Die Depression (von lateinisch deprimere „niederdrücken“) ist eine psychische Störung. Typisch für sie sind gedrückte Stimmung, negative Gedankenschleifen und ein gehemmter Antrieb. Häufig gehen Freude und Lustempfinden, Selbstwertgefühl, Leistungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und das Interesse am Leben verloren. Diese Symptome treten auch bei gesunden Menschen zeitweise auf. Bei einer Depression sind sie jedoch länger vorhanden, schwerwiegender ausgeprägt und senken deutlich die Lebensqualität.

 

In der Psychiatrie wird die Depression den affektiven Störungen zugeordnet. Die Diagnose wird nach Symptomen und Verlauf (z. B. einmalige oder wiederholte depressive Störung) gestellt. Zur Behandlung werden nach Abklärung möglicher Ursachen Antidepressiva eingesetzt oder eine Psychotherapie durchgeführt, je nach Schweregrad einzeln oder auch kombiniert.

 

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff depressiv häufig für eine normale traurig, niedergeschlagene Verstimmung verwendet (der richtige Fachbegriff dazu wäre deprimiert). Im medizinischen Sinne ist die Depression jedoch eine ernste, behandlungsbedürftige und oft folgenreiche Erkrankung, die sich der Beeinflussung durch Willenskraft oder Selbstdisziplin des Betroffenen entzieht.

 

Grob geschätzt, erkrankt jeder siebte Mensch einmal in seinem Leben an einer Depression. Bei schweren depressiven Episoden liegt die Mortalitätsrate bei ca. 15 % und ist folglich einer der Hauptursachen für Suizide und Suizidversuche.

Symptome

Im Jahre 2011 wurde von mehreren Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) eine Versorgungsleitlinie zum Thema Depression erarbeitet. Sie empfiehlt, zur Diagnose nach ICD-10 zwischen drei Haupt- und sieben Zusatzsymptomen zu unterscheiden.

 

Die Hauptsymptome sind:

 

  1. Gedrückte, depressive Stimmung: Die Depression ist charakterisiert durch Stimmungseinengung oder bei einer schweren Depression das „Gefühl der Gefühllosigkeit“ bzw. das Gefühl, anhaltender innerer Leere.

  2. Interessensverlust und Freudlosigkeit: Verlust der Fähigkeit zur Freude oder Trauer; Verlust der affektiven Resonanz, das heißt, die Stimmung des Patienten ist durch Zuspruch nicht aufzuhellen

  3. Antriebsmangel und erhöhte Ermüdbarkeit: Ein weiteres typisches Symptom ist die Antriebshemmung. Bei einer schweren depressiven Episode können Betroffene in ihrem Antrieb so stark gehemmt sein, dass sie auch einfachste Tätigkeiten wie Körperpflege, Einkaufen oder Abwaschen nicht mehr verrichten können.

 

Die Zusatzsymptome sind:

 

  1. Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit

  2. Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen (Insuffizienzgefühl)

  3. Schuldgefühle und Gefühle von Minderwertigkeit

  4. Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven (hoffnungslos): Charakteristisch sind übertriebene Sorge um die Zukunft, unter Umständen übertriebene Beunruhigung durch Bagatellstörungen im Bereich des eigenen Körpers (siehe Hypochondrie), das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Hilflosigkeit oder tatsächliche Hilflosigkeit.

  5. Suizidgedanken oder -handlungen: Schwer Betroffene empfinden oft eine völlige Sinnlosigkeit ihres Lebens. Häufig führt dieser qualvolle Zustand zu latenter oder akuter Suizidalität.

  6. Schlafstörungen

  7. Verminderter Appetit

 

Ferner kann zusätzlich noch ein somatisches Syndrom vorliegen:

  • Interessenverlust oder Verlust der Freude

  • Mangelnde Fähigkeit, emotional auf die Umwelt zu reagieren

  • Der Schlaf ist gestört in Form von vorzeitigem Erwachen, mindestens zwei Stunden vor der gewohnten Zeit. Diese Schlafstörungen sind Ausdruck eines gestörten 24-Stunden-Rhythmus. Die Störung des chronobiologischen Rhythmus ist ebenfalls ein charakteristisches Symptom.

  • Morgentief: Häufig geht es dem Kranken vormittags besonders schlecht. Bei einer seltenen Krankheitsvariante verhält es sich umgekehrt: Es tritt ein sogenanntes „Abendtief“ auf, das heißt, die Symptome verstärken sich gegen Abend und das Einschlafen ist erschwert oder erst gegen Morgen möglich.

  • Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit: Die Hemmung von Bewegung und Initiative geht häufig mit innerer Unruhe einher, die körperlich als ein Leidgefühl wahrgenommen wird und sehr quälend sein kann (stumme Exzitation, lautlose Panik).

  • Deutliche Appetitlosigkeit

  • Gewichtsabnahme, Gewichtszunahme („Kummerspeck“)

  • Auch kann sich das sexuelle Interesse vermindern oder erlöschen (Libidoverlust).

 

Depressive Erkrankungen gehen gelegentlich mit körperlichen Symptomen einher, sogenannten Vitalstörungen, z. B. Schmerzen in ganz unterschiedlichen Körperregionen, am typischsten mit einem quälenden Druckgefühl auf der Brust. Während einer depressiven Episode ist die Infektionsanfälligkeit erhöht. Beobachtet wird auch sozialer Rückzug, das Denken ist verlangsamt (Denkhemmung), sinnloses Gedankenkreisen (Grübelzwang), Störungen des Zeitempfindens. Häufig bestehen Reizbarkeit und Ängstlichkeit. Hinzukommen kann eine Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen.

Schweregrad

Der Schweregrad wird nach ICD-10 gemäß der Anzahl der Symptome eingeteilt:

  • Leichte Depression: zwei Hauptsymptome und zwei Zusatzsymptome

  • Mittelschwere Depression: zwei Hauptsymptome und drei bis vier Zusatzsymptome

  • Schwere Depression: drei Hauptsymptome und fünf oder mehr Zusatzsymptome

 

Die Symptomatik einer Depression kann sich bei Frauen und Männern auf unterschiedliche Weise ausprägen. Bei den Kernsymptomen sind die Unterschiede gering. Während bei Frauen eher Phänomene wie Mutlosigkeit und Grübeln verstärkt zu beobachten sind, gibt es bei Männern deutliche Hinweise darauf, dass eine Depression sich auch in einer Tendenz zu aggressivem Verhalten niederschlagen kann. In einer Studie von 2014 wurden die unterschiedlichen Ausprägungen bei Frauen und Männern mit Unterschieden bei den biologischen Systemen der Stressreaktion in Verbindung gebracht.

 

Etwa doppelt so viele Frauen wie Männer erkranken an Depression wie bei Männern. Die Suizidquote ist bei Männern aber mehr als doppelt so hoch.

Unterschiedliche Formen

Gegenwärtig ist das Diagnose-Schema nach ICD-10 in der medizinischen Praxis verbindlich. Die Schwere der Depression wird dort durch die Begriffe leichte, mittelgradige und schwere depressive Episode unterschieden, bei letzterer noch mit dem Zusatz mit oder ohne psychotische Symptome (siehe auch: Diagnose).

 

Nach dem ICD-10 Diagnose-Schema wird die chronische Depression nach Schwere und Dauer eingestuft in Dysthymie oder rezidivierende (wiederholte) Depression. Hier ist die DSM-5 genauer, da zu den bestehenden chronischen depressiven Verstimmungen noch phasenweise zusätzliche Depressionen hinzukommen können. Innerhalb der DSM-5 wird dies dann double depression genannt. Dort wurde jedoch auch der Ausschluss von Trauerreaktionen als Diagnosekriterium aufgehoben.

 

Organische Depression (ICD-10 F06.3 – „Organische affektive Störungen“) nennt man ein depressives Syndrom, das durch eine körperliche Erkrankung hervorgerufen wird, beispielsweise durch Schilddrüsenfunktionsstörungen, Hypophysen- oder Nebennierenerkrankungen, Schlaganfall oder Frontalhirnsyndrom.

Historische Formen der Kategorisierung der Depression

Die reaktive Depression wird als Reaktion auf ein aktuell belastendes Ereignis verstanden und heute als mögliches Symptom einer Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) diagnostiziert.

 

Der Begriff endogene Depression umfasst ein depressives Syndrom ohne erkennbare äußere Ursache, das meist auf veränderte Stoffwechselvorgänge im Gehirn und genetische Veranlagungen zurückgeführt wurde (endogen bedeutet "innen entstanden"). Heute wird sie im klinischen Alltag als eine Form der affektiven Psychose bezeichnet.

 

Die neurotische Depression oder Erschöpfungsdepression soll durch länger andauernde belastende Erfahrungen in der Lebensgeschichte verursacht sein.

 

Als Sonderform der Depression wurde die anaklitische Depression (Anaklise = Abhängigkeit von einer anderen Person) bei Babys und Kindern angesehen, wenn diese allein gelassen oder vernachlässigt wurden. Die anaklitische Depression äußere sich durch Weinen, Jammern, anhaltendes Schreien und Anklammern und könne in psychischen Hospitalismus übergehen.

 

Die somatisierte Depression (auch maskierte bzw. larvierte Depression genannt) ist eine Depression, bei der körperliche Beschwerden das Krankheitsbild prägten. Die depressive Symptomatik bleibt unterschwellig. Beschwerdeschilderungen in Form von Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Beklemmungen in der Brustregion, Schwindelempfindungen und vieles mehr sind beschrieben. Die unterschiedlichsten körperlichen Empfindungen fungierten als „Präsentiersymptome“ einer Depression.

 

Die zur depressiven Symptomatik gehörende innere Unruhe führte zu Erscheinungsformen, die unter agitierter Depression subsumiert wurde. Dabei werde der Patient von einem rastlosen Bewegungsdrang, der ins Leere lief, getrieben, wobei zielgerichtete Tätigkeiten nicht möglich seien. Der Kranke gehe umher, könne nicht still sitzen und auch Arme und Hände nicht stillhalten, was häufig mit Händeringen und Nesteln einhergehe. Auch das Mitteilungsbedürfnis sei gesteigert und führe zu ständigem, einförmigen Jammern und Klagen.

 

Ursachen

 

Die Ursachen depressiver Störungen sind komplex und nur teilweise verstanden. Es existieren sowohl anlagebedingte als auch erworbene Anfälligkeiten (Prädispositionen) zur Ausbildung einer Depression. Erworbene Anfälligkeiten können durch biologische Faktoren und durch lebensgeschichtliche soziale oder psychische Belastungen ausgelöst werden.

 

Biologische Einflüsse

Zwischen genetischen Faktoren und Umweltfaktoren besteht eine Gen-Umwelt-Interaktion, engl. gene–environment interaction. So können genetische Faktoren z. B. bedingen, dass ein bestimmter Mensch durch eine große Risikobereitschaft sich häufig in schwierige Lebenssituationen manövriert. Umgekehrt kann es von genetischen Faktoren abhängen, ob ein Mensch eine psychosoziale Belastung bewältigt oder depressiv erkrankt.

 

Ein wesentlicher genetischer Vulnerabilitätsfaktor für das Auftreten einer Depression wird in einer Variation in der Promotorregion des Serotonin-Transportergens 5-HTTLPR vermutet.. Träger des kurzen Allels reagieren empfindsamer auf psychosoziale Stressbelastungen und sollen damit ein bis zu doppelt so großes Risiko (Disposition) an einer Depression zu erkranken haben wie die Träger des langen Allels.

Neurophysiologie

Als gesichert gilt, dass die Signalübertragung insbesondere der monoaminergen Neurotransmitter Serotonin, Dopamin und Noradrenalin beteiligt ist. Auch weitere Signalsysteme sind involviert, und ihre gegenseitige Beeinflussung ist hochkomplex. Obwohl monaminerg beeinflussende Medikamente (Antidepressiva) depressive Symptome verändern können, bleibt unklar, inwieweit diese Transmittersysteme ursächlich an der Entstehung von Depressionen beteiligt sind. So spricht auch etwa ein Drittel der Patienten nicht oder nur unzureichend auf Medikamente an, die monoaminerge Systeme beeinflussen.

Jahreszeit

Die sogenannte Winterdepression wird als eine unzureichende Anpassung an Jahresrhythmen und an die jahreszeitlichen Veränderungen des Tagesrhythmus aufgefasst. Daran beteiligt sind mehrere Faktoren, unter anderem die jahreszeitlichen Schwankungen bei der Bildung von Vitamin D durch Sonnenlicht.

Infektionen

Auch chronische Infektionen mit Krankheitserregern wie Streptokokken (früher auch das Virus der Bornaschen Krankheit) stehen in Verdacht, Depressionen auslösen zu können. Die depressiven Syndrome bei schweren Infektionen oder anderen schweren Erkrankungen können nach heutigem Kenntnisstand durch Entzündungsprozesse und die dabei wirksamen Zytokine vermittelt und als sickness behaviour bezeichnet werden.

Medikamente und Drogen

Depressive Syndrome können durch die Einnahme oder das Absetzen von Medikamenten oder psychotropen Substanzen verursacht werden. Die Unterscheidung zwischen einer substanzinduzierten Depression und einer von Medikamenteneinnahme unabhängigen Depression kann schwierig sein. Grundlage der Unterscheidung ist eine durch einen Psychiater erhobene, ausführliche Krankengeschichte.

 

Psychologische Einflüsse

 

Erlernte Hilflosigkeit

Nach Seligmans Depressionsmodell werden Depressionen durch Gefühle der Hilflosigkeit bedingt, die auf unkontrollierbare, aversive Ereignisse folgen. Entscheidend für die erlebte Kontrollierbarkeit von Ereignissen sind die Ursachen, auf die die Person ein Ereignis zurückführt. Nach Seligman führt die Ursachenzuschreibung unangenehmer Ereignisse auf interne, globale und stabile Faktoren zu Gefühlen der Hilflosigkeit, die wiederum zu Depressionen führen. Mittels Seligmans Modell lässt sich die hohe Komorbidität zu Angststörungen erklären: Allen Angststörungen ist gemein, dass die Personen ihre Angst nicht oder sehr schlecht kontrollieren können, was zu Hilflosigkeits- und im Verlauf der Störung auch zu Hoffnungslosigkeitserfahrungen führt. Diese wiederum sind, laut Seligman, ursächlich für die Entstehung von Depressionen.

Kognitionen als Ursache

Im Zentrum von Aaron T. Becks kognitiver Theorie der Depression stehen kognitive Verzerrungen der Realität durch den Depressiven. Ursächlich dafür sind, laut Beck, negative kognitive Schemata oder Überzeugungen, die durch negative Lebenserfahrungen ausgelöst werden. Kognitive Schemata sind Muster, die sowohl Informationen beinhalten als auch zur Verarbeitung von Informationen benutzt werden und somit einen Einfluss auf Aufmerksamkeit, Enkodierung und Bewertung von Informationen haben. Durch Benutzung dysfunktionaler Schemata kommt es zu kognitiven Verzerrungen der Realität, die im Falle der depressiven Person zu pessimistischen Sichtweisen von sich selbst, der Welt und der Zukunft führen (negative Triade). Als typische kognitive Verzerrungen werden u. a. willkürliche Schlüsse, selektive Abstraktion, Übergeneralisierungen und Über- oder Untertreibungen angesehen. Die kognitiven Verzerrungen verstärken rückwirkend die Schemata, was zu einer Verfestigung der Schemata führt. Unklar ist jedoch, ob kognitive Fehlinterpretationen, bedingt durch die Schemata, die Ursache der Depression darstellen oder ob durch die Depression kognitive Fehlinterpretationen erst entstehen.

Emotionale Intelligenz

Die Vertreter des Konzepts der emotionalen Intelligenz stehen Aaron T. Beck nahe, gehen aber darüber hinaus. Daniel Goleman sieht bei depressiven Jugendlichen zwei folgenreiche emotionale Defizite: Erstens zeigen diese, wie auch Beck beschreibt, eine Tendenz, Wahrnehmungen negativ, also depressionsverstärkend, zu interpretieren. Zweitens fehlt ihnen aber auch ein solides Können in der Handhabung zwischenmenschlicher Beziehungen .

 

Nach dem Depressionsmodell von Lewinsohn, das auf der operanten Konditionierung der behavioristischen Lerntheorie beruht, entstehen Depressionen aufgrund einer zu geringen Rate an unmittelbar mit dem Verhalten verbundener Verstärkung. Nach Lewinsohn hängt die Menge positiver Verstärkung von der Anzahl verstärkender Ereignisse, von der Menge verfügbarer Verstärker und von den Verhaltensmöglichkeiten einer Person ab, sich so zu verhalten, dass Verstärkung möglich ist. Im weiteren Verlauf kann es zu einer Depressionsspirale kommen, wenn Betroffene sich aufgrund der Interessenlosigkeit sozial zurückziehen und der Verlust an Verstärkern wiederum zu einer weiteren Verschlechterung der Stimmung beiträgt. Dieser Entwicklung müsse dann durch Verhaltensänderungen im Sinne einer „Anti-Depressionsspirale“ entgegengewirkt werden.

 

Das entsprechende Konzept ist die Grundlage für die Verhaltensaktivierung in der Behandlung.

Stressoren und Traumata

Anhaltende Stressbelastungen wie etwa Armut können Depressionen auslösen. Auch frühe Traumata können spätere Depression bedingen. Da die Hirnreifung bei Kindern noch nicht abgeschlossen ist, können traumatische Erlebnisse das Entstehen einer schweren Depression im Erwachsenenalter begünstigen.

 

Stressoren und Traumata

 

Wie die Grafik vereinfacht darstellt, zeigt z.B. der dritte Balken eine geringere Vulnerabilität. Schlicht ausgedrückt: die Person hat „starke Nerven“. Auch bei höherem Stress gerät diese noch nicht an das Stresslevel heran.

 

Der erste Balken zeigt einen durchschnittlichen Menschen. Dieser kann zwar kurzzeitig Stress ab, aber wenn dieser höher wird oder längere Zeit anhält, dann wird schnell das gesunde Limit erreicht.

 

Der mittlere Balken gibt nun an, dass eine vulnerable Persönlichkeit sehr schnell an ihre Grenzen kommt, das heißt, schon ein geringer Stress kann das Gleichgewicht der Botenstoffe stören. Volkstümlich gesprochen, hat dieser Mensch „schwache Nerven“.

 

Meist handelt sich es um eine genetische Disposition, die sich über eine spezifische Sensibilität und Störanfälligkeit äußert.

Mangelnde soziale Anerkennung

Der Medizinsoziologe Johannes Siegrist hat auf der Grundlage umfangreicher empirischer Studien das Modell der Gratifikationskrise (verletzte soziale Reziprozität) zur Erklärung des Auftretens zahlreicher Stresserkrankungen (wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depression) vorgeschlagen.

 

Gratifikationskrisen gelten als großer psychosozialer Stressfaktor. Sie können vor allem in der Berufs- und Arbeitswelt, aber auch im privaten Alltag (z. B. in Partnerbeziehungen) als Folge eines erlebten Ungleichgewichtes von wechselseitigem Geben und Nehmen auftreten.

 

Sie äußern sich in dem belastenden Gefühl, sich für etwas engagiert eingesetzt oder verausgabt zu haben, ohne dass dies gebührend gesehen oder gewürdigt wurde. Oft sind solche Krisen mit dem Gefühl des Ausgenutztseins verbunden. In diesem Zusammenhang kann es zu heftigen negativen Emotionen kommen. Dies wiederum kann bei einem Andauern auch zu einer Depression führen. In der Arbeitswelt wird die Erkrankung gerne als „Burn-out“ bezeichnet und scheint so weniger stigmatisierend für den Einzelnen zu sein. Mittlerweile hat dieser Begriff auch im Privatleben seinen Platz gefunden, Das „Familien-Burn-out“ bezeichnet dann ein Familienmitglied, das sich chronisch überlastet fühlt und für diese Anstrengung kaum oder gar keine Anerkennung erhält. Es können auch mehrere Familienmitglieder involviert sein, wenn z.B. ein Familienmitglied eine besonders intensive Aufmerksamkeit und Pflege benötigt.

 

Eine Depression bei einem Familienmitglied wirkt sich auf Kinder aller Altersgruppen aus. Elterliche Depression ist ein Risikofaktor für zahlreiche Probleme bei den Kindern, jedoch insbesondere für Depressionen. Viele Studien haben die negativen Folgen der Interaktionsmuster zwischen depressiven Müttern und ihren Kindern belegt. Bei den Müttern wurde mehr Anspannung und weniger verspielte, wechselseitig belohnende Interaktion mit den Kindern beobachtet. Sie zeigten sich weniger empfänglich für die Emotionen ihres Kindes und weniger bestätigend im Umgang mit dessen Erlebnissen. Außerdem boten sich den Kindern Gelegenheiten zum Beobachten depressiven Verhaltens und depressiven Affektes. André Green (1983) beschreibt in seinem Konzept der emotional „toten Mutter“, dass eine Depression die Folge davon sein könnte, dass in wichtigen Entwicklungsphasen eine emotionale Antwort der Eltern fehlte.

Evolutionsbiologische Theorien

Das Risiko einer Depression ist weltweit so beträchtlich, dass für manche eine evolutionäre Anpassung (adaptive Funktion) wahrscheinlicher erscheint als ein isoliertes Krankheitsgeschehen. Eine früher vorteilhafte Reaktionsweise kann unter heutigen Lebensbedingungen unbedeutend sein, das heißt die jeweilige Veranlagung nur noch als Krankheit oder Störung zu Tage treten. In der Diskussion ist ferner, ob Depressionen nicht auch heute noch eine Funktion haben, die evtl. zu wenig wahrgenommen wird.

 

Stevens und Price sehen aufgrund von Häufigkeit, Symptomatik und sozialem Kontext verschiedene psychische Störungen als einstmals adaptive soziale Reaktionsweisen. Depressionen werden in diesem Zusammenhang als Unterordnungsreaktion auf eine Niederlage betrachtet. Der zu beobachtende Anstieg der Krankheitslast durch Depressionen wird daher mit unseren Lebensbedingungen, speziell gesellschaftlichen Faktoren und Konkurrenz in Verbindung gebracht. Andere Autoren sehen den wesentlichen adaptiven Aspekt in der Handlungshemmung, die mit Depressionen verbunden ist, da diese unter verschiedenen Umweltbedingungen funktional sein kann.